Die außergewöhnlich schöne Berninagruppe mit dem Piz Bernina - dem einzigen Viertausender der Ostalpen - übte auf uns junge Bergsteiger in der 2. Hälfte der Sechziger Jahre eine große Anziehung aus.
Auf einer Busfahrt des Kemptener Alpenvereins ins Ortlergebiet im August 1965 faszinierte uns junge Bergsteiger beim Aufstieg zum Ortler die in der Morgensonne leuchtende und alle anderen Berge im Umkreis überragende Berninagruppe. Ihr Anblick schlug meine Seilkameraden und mich regelrecht in den Bann. Immer wieder schauten wir zu ihr hinüber. In uns keimte schon auf dem Ortler der Wunsch, dieses Berggebiet im nächsten Jahr aufzusuchen.
Der 3900 m hohe Ortler war mein erster Dreitausender. Den Namen "Bernina" kannte ich bis dahin nur als Nähmaschinenmarke. Mein Arbeitskollege und damaliger Kletterkamerad Walter, der bei dieser AV-Tour den Ortler über den Hintergrat bestieg und bereits vorher die Wildspitze-Nordwand durchstiegen hatte, und ich beschäftigten uns intensiv mit dem Studium der Schweizer Landeskarte und mit dem "Kleinen Berninaführer" von Walther Flaig. Dessen informatives und unterhaltsames Buch "Bernina - Festsaal der Alpen" trug mit vielen Informationen und Fotos erheblich zu unserer Begeisterung für und zu unserem Wissen über dieses Berggebiet bei, so dass wir uns später mühelos zurechtfinden konnten.
Mitte Juli 1966 war es soweit. Mit dem Zug fuhren wir von Kempten aus ins Oberengadin. In Chur stiegen wir in die Rhätische Bahn um. Vom Bahnhof in Samedan sahen wir zum ersten Mal die Berninagipfel - tief verschneit vom Schlechtwetter der vorausgegangenen Tage. Mit der Berninabahn ging es weiter bis zur Station Morteratsch. Wir wanderten von dort mit schweren Rucksäcken ins Val Morteratsch zur Bovalhütte mit dem Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. So gut kannten wir das Morteratschgebiet von Flaig's Fotos und Beschreibungen her.
Unser Plan war, über die Bellavistaterrasse zum 3600 m hoch gelegenen italienischen Rifugio Marco e Rosa aufzusteigen und von dort über den Spallagrat den 4049 m hohen Piz Bernina zu besteigen. Für den Rückweg hatten wir die Überschreitung von Bellavista und Piz Palü im Falle guten Wetters ins Auge gefasst. Das unzuverlässige Wetter zwang uns auf der Bovalhütte zum Umdisponieren. Am nächsten Morgen war es nebelig. Erst am späteren Vormittag lichtete sich der Nebel nach oben. Die Gipfel waren allesamt bis auf etwa 3300 m herab in Wolken eingehüllt.
Um uns zu akklimatisieren und um den Tag nicht zu vertrödeln, bestiegen wir nach Rücksprache mit Arno, dem damaligen Hüttenwart, den Piz Boval über dessen Südostflanke. Uns machte das Höhersteigen und leichte Klettern über Stufen und Rinnen Spaß. Wir kamen zügig voran. Oben am Piz Boval senkte sich die Wolkendecke wieder herab. Wir sahen gerade noch am rückseitigen Gletscher eine Schneespur zur Fuorcla Boval links hinüberziehen. Dieser folgten wir im Nebel und stiegen und kletterten über die Fuorcla Boval auf gespurten Felsbändern zur Hütte ab.
Am darauf folgenden Tag brachen wir bei Sonnenschein und blauem Himmel zur Marco e Rosa Hütte auf. Über den Morteratschgletscher und die "Gamsflucht" stiegen wir zum Fortezzagrat auf, da der Anstieg über das "Loch" unterhalb der Bellavista-Terrasse zu lawinengefährdet war. Zum Rücken des Fortezzagrats hin hatte sich auf der östlichen Leeseite massenhaft Triebschnee abgelagert. Wir sanken bis zu Schenkel und Bauch im Schnee ein und arbeiteten uns robbend auf dem Bauch zum Gratrücken hoch, um nicht so tief einzusinken.
Nach dem letzten Felsaufschwung vor der Bellavistaterrasse brachen wir die Tour wegen eines drohenden Wettersturzes von Süden ab - einem Ratschlag des Berninakenners Walther Flaig in seinem Bernina-Führer folgend. Über die Grate von Bellavista und Piz Palü fegten von Süden Sturmfahnen aus Wolken und Schnee und es fing auf 3500 m Höhe zu regnen an. Der Schnee wurde immer nasser und sulziger. Mühsam, immer wieder nach den Kletterstellen und im ostseitigen Hang im Schnee tief einsinkend, mühten wir uns zur Rifugio dals Chamouts (Gamsflucht) hinunter. Von dort aus ging es leichter abwärts. Wir folgten unserer Spur auf dem Gletscher und im Schneefeld zum Moränensee auf der Isla Persa.
Am Rand des Sees rasteten wir. Wir waren ziemlich hungrig. Walter begann auf seinem Gaskocher Schnee zu schmelzen und eine Päckchensuppe zu kochen. Er hatte jedoch zuhause den zugehörigen Topfdeckel vergessen. Durch den anhaltenden Regen stieg der Flüssigkeitsspiegel im Topf immer weiter an und drohte überzulaufen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die Suppe zum Köcheln anfing und genießbar wurde. Danach war die Gaskartusche leer.
Gerade noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir die Bovalhütte. Da keine Aussicht auf beständigeres Wetter bestand, stiegen wir am Tag darauf auf dem Morteratschgletscher zur Bahnstation ab. Wir hätten auch nicht länger bleiben können, da unsere Barmittel durch die hohen Preise in der Schweiz rapide geschrumpft waren.
Mit Rhätischer Bahn, Schweizer und Österreichischer Bundesbahn reisten wir nach Hause. Fast nach Hause - denn in Lindau war die Fahrt zu Ende. Ab 20:30 Uhr fuhr kein Anschlusszug mehr in Richtung Kempten. Wir waren gezwungen, in Lindau die stürmische Nacht zu verbringen. Das schreckte uns nicht ab, da wir unsere Biwakausrüstung mit Schlafsäcken und Daunenjacken dabei hatten. Wir hatten vor, an einer geeigneten Stelle in der Stadt zu nächtigen, um unser restliches Geld für ein ordentliches Abendessen in einem Lokal zu verwenden; denn wir waren sehr hungrig.
Unsere Rucksäcke mit Schlafsäcken, Dauenjacken und Anoraks gaben wir in der Gepäckaufbewahrung im Bahnhof ab, in der Absicht, diese später abzuholen. Danach suchten wir ein Weinlokal auf, in dem es gemütlich warm war. Als wir gegen 01:00 Uhr nachts zur Sperrstunde das Lokal verließen und den Bahnhof aufsuchten, standen wir vor verschlossenen Türen. Wir hatten nicht darauf geachtet, dass der Bahnhof um 24:00 Uhr schließt. Lediglich unsere Pullover hatten wir uns zum Lokalbesuch übergezogen gehabt und wir sahen uns genötigt, in diesem Zustand die Nacht im Freien zu verbringen. Im Windschatten eines Gartenlokals stellten wir mehrere Stühle zusammen und legten uns darauf. Der zunehmend stürmischer werdende Föhnwind, der um die Ecke pfiff, verleidete uns jedoch diesen Aufenthaltsort.
Gegen 03:30 Uhr suchten wir frierend eine Telefonzelle auf, um uns vor dem Wind zu schützen. Stehend verbrachten wir die Zeit bis zur Öffnung des Bahnhofs um 06:00 Uhr morgens mit dem Schlaf kämpfend in der engen Telefonzelle. In einer Arrestzelle der Grenzpolizei Lindau hätten wir die Nacht auf einer Pritsche wesentlich komfortabler überstanden. Als junge Justizbeamte scheuten wir uns allerdings davor, diesen Service in Anspruch zu nehmen. In Gedanken sahen wir uns mit einer spöttischen Schlagzeile in der Allgäuer Zeitung stehen. Wir wussten, dass die Polizei Ereignismeldungen an die Presse weitergibt. Diese Vorstellung hielt uns ab, die Wache aufzusuchen. Jene Nacht war härter als alles andere, das wir in den zurückliegenden Tagen auf den Touren erlebt hatten.
In den Jahren 1967, 1968 und 1969 hatten wir bei unseren Bernina-Hochtouren schönstes Wetter und beste Sichtverhältnisse. Wir bestiegen im Rahmen von zwei Alpenvereins-Wochenendtouren die Bellavista und den Piz Morteratsch über den Spraunzagrat. Neuschnee, mit Schnee verkleisterte Kletterstellen und Schmelzwasser überronnene Felsplatten machten uns bei dieser Grattour zu schaffen. Der aufgeweichte Neuschnee erleichterte uns jedoch den Schlussanstieg über die steile Gletscherflanke zum Gipfel.
1969 bestieg ich mit Bergfreunden aus Kempten den Piz Morteratsch auf dem Normalweg bei besten Verhältnissen. 1985 war ich wieder mit Freunden bei einer Tagestour von Bergün am Albulapass auf diesen Gipfel unterwegs. Zu Beginn des letzten Firnaufschwungs vor dem Gipfel - in etwa 3700 m Höhe - kehrten wir um. Der vorausgegangene Höhensturm hatte über Nacht den ganzen Neuschnee weggeblasen. Es kam auf der ganzen Breite des steilen Hanges hartes Blankeis zum Vorschein. Eine Gefährtin hatte kein Steigeisen.
Insgesamt kamen 28 Wanderungen, Gletschertouren und Hochtouren mit 31 Tourentagen in der Bernina und im restlichen Oberengadin in den Jahren von 1966 bis 1987 zustande.